Eine Zugfahrt, die ist lustig

Wir beginnen nun unsere 40stuendige Zugfahrt von Astrakhan nach Almaty. Wir verabschieden uns herzlich von Ulfara, die uns die letzten Tage Astrakhan gezeigt hat und dessen Familie uns hier ihre Datscha grosszuegig als Unterkunft zur Verfuegung gestellt hat. Nach einem interesanten Aufenthalt im heissen Wolgograd (dem frueheren Stalingrad) und dem dortigen Besuch der Gedenkstaetten zur Schlacht um diese Stadt im Zweiten Weltkrieg, haben wir in Astrakhan, am Wolgadelta in der Naehe zur Kasachischen Grenze ein paar noch heissere Tage verbracht (43 °C). Zum Glueck konnten wir uns in der Wolga sowie bei einem Ausflug ins Wolgadelta zu ein paar  Lotusbluetenfeldern des oefteren im kuehlen Nass erfrischen.

Seit 4 Stunden fahren wir jetzt schon mit dem Zug. Auf unsere Nachfrage, wann wir denn in Almaty ankommmen und wie lange denn die Fahrt dauere, haben wir erfahren, dass wir nicht wie erwartet um die 40 Stunden unterwegs sind, sondern, was unsere Kinnladen erst einmal unkontrolliert herunterhaengen lies, geschalgene 3 Tage und 3 Naechte. War das planlos?
Unser Parzelle der russischen Eisenbahn kann man kein Abteil nennen, da es nicht wie gewoehnlich durch eine Tuer vom Gang getrennt ist, sondern dieser mitten hindurch fuehrt und so eine Parzelle an die andere anschliesst. Ein solches „Nicht-Abteil“ ist etwa 1,70m breit an der Fensterseite, 2,50m hoch und 2,50m tief. Auf der einen Seite des Ganges gibt es jeweils rechts und links eines kleinen Klapptisches oben und unten ein Bett. Alle Betten sind geschaetzte 1,70m lang! Auf der anderen Seite des Ganges befinden sich parallel zum Verlauf des Ganges ebenfalls Betten auf den zwei Ebenen. Diese sind allerdings an ihrem  Kopf- und Fussende (man erinnere sich an die 1,70m Laenge) durch die Statik erhaltenden „Abteil“-Trenn-Waende begrenzt. Gluecklicherweise haben wir die oberen Betten rechts und links des Tisches und koennen so unsere Fuesse in Kopfhoehe ueber die Matratze hinaus in den Gang strecken.
Die untere Bettetage dient auch als Sitzflaeche, wobei das Sitzpolster aus zwei Zentimeter dickem gealterten Schaumstoff unter weinrotem Kunstleder besteht und auf die Rueckenpolsterung komplett verzichtet wurde. Der Abstand zur zweiten Bettetage von ca. 1,20m erlaubt das Sitzen, waehrend die oberen Betten herunter geklappt sind, was eigentlich die gesamte Zugfahrt der Fall ist. Der Lebensraum oberhalb der zweiten Bettetage allerdings wird nach etwa 60 Zentimetern durch die Gepaeckablage begrenzt. Dies erlaubt nur einen liegenden Aufenthalt in der zweiten Etage. Da man hier genau am geoeffneten oberen Teil des Fensters liegt, hat diese Bettebene aber auch seine Vorzuege. An dieser Stelle sei uns ein kleiner Vergleich erlaubt. Wir hoerten von einem Fall, da ein Reisender auf einem Langstreckenflug in der Reihe vor dem Notausgang sass und durch diese verantwortliche Sitzposition, ueber den gesamten Flug hinweg, seinen Sessel nicht zuruecklehnen konnte, da dieser verriegelt war. Nun, wir haben das Glueck am einzigen verantwortungsvollen Platz des Wagons zu liegen, naemlich am Notausstiegsfenster! Diese einzigartige Position in diesem Wagon ist mit einem kleinen Zugestaendnis verbunden. Das Fenster laesst sich naemlich ausserhalb eines Notfalls nicht oeffnen! (Wir fragen uns beim Schreiben dieser Zeilen und dem Feststellen, dass es sich wirklich um das einzige Fenster dieser Art im Wagon handelt, ob es in der Tat Zufall ist, dass wir beide diese verantwortungsvollen Plaetze erhalten haben…) Zur Theorie des „Nicht-Oeffnens“ sei noch erwaehnt, dass wir dies nicht wussten. Da wir es schon gewohnt sind, dass Tueren und Fenster hier in Russland manchmal klemmen, wollte es einer von uns beiden nicht war haben. Mit voller Kraft wurde am Hebel des Fensters gezogen, was dazu fuehrte, dass sich das Fenster doch irgendwann oeffnete, und zwar weit ueber jegliche Begrenzung hinweg und gleich den Vorhang mit abriss. (Ihr koennt uns ja mal ein Kommentar schreiben, wer das von uns wohl war…)
Dieser Akt der rohen Gewalt bzw. dieses kleine Missverstaendnis mit anschliessendem Missgeschick (die Autoren koennen sich hier nicht einig werden!) stiess bei der alten kirgisischen Mitreisenden in unserem „Abteil“ auf weitere Ablehnung den Auslaendern gegenueber. Die von uns freudig begruesste „Frischluft“ bei um die 40 Grad Celsius Aussentemperatur, wurde allerdings alsbald von einem herbeigerufenen Mechaniker der Eisenbahn wieder abgestellt, das Fenster wurde verschlossen und (wieder) verplombt.
Das erste Quaentchen Ablehnung uns gegenueber von Seiten unserer kirgisischen Mitreisenden provozierten wir durch das Einladen unseres relativ ueppigen Gepaecks (da waren ja auch zwei Fahrraeder dabei). Geuebt von unseren vorherigen Zugfahrten, platzierten wir die zwei Bikes unter der Wagondecke. Diese fuer uns selbstverstaendliche und bewaerte Befestigungsmethode erweckte bei der kirgisischen Omi kein akutes Vertrauen, was sie uns immer wieder in Form von auf ihren Kopf herabfallenden Fahrraedern gestikulierte. Nachdem wir dann alles zu ihrer Beruhigung, aber voellig ueberfluessigerweise, verzurrt haben und immer wieder mit dem Wort „normal“ (was soviel wie „ok“ bedeutet) versicherten, das das alles schon passe, heisst es dann, unsere Raeder wuerden schlecht riechen! Alles hat ja auch seine Grenzen!

Die Sonne ist inzwischen am Rande der schier endlosen kasachischen Steppen untergegangen, trotzdem staut sich die Hitze in unserem „Abteil“. Dennoch freuen wir uns auf die verbleibenden 64 Stunden (!) in diesem kleinen Paradies. Von rechts schreiende Kinder, von links das obligatorische Schnarchen eines 120 Kilo-Mannes, gegenueber liegt ein Teenager und liest ein Lifestyle-Magazin, 20 Zentimeter ueber unserem Kopf das Brett der Ablage mit unseren Raedern quer ueber das „Abteil“, unter uns die inzwischen besser auf uns zu sprechende aeltere Kirgisin mit ihrem Mann, dessen Fuesse sich nach anfaenglicher Selbstkritik als die Ursache des strengen Dufts herausgestellt haben, und hinter unseren Koepfen das natuerlich geschlossene Notausstiegsfenster.
In den bisher 7 Stunden Zugfahrt koennen wir behaupten schon ein paar Freunde gemacht zu haben. Wobei die Zug-„Fahrt“ bisher aus drei Stunden Halt fuer Grenzkontrollen und vier Stunden Fahrt bestand. Die Fahrt wird  allerdings immer wieder durch kurze Stops unterbrochen, um andere Zuege zu passieren.
Durch das Fenster sehen wir als erstes die Abgase unserer Diesellok wie Wolken an uns vorbei ziehen, dahinter die parallel zur Bahnlinie verlaufenden Strommasten und letzendlich eine etwas befremdlich wirkende weitreichende Steppenlandschaft. Als Konsequenz der einheitlich angewandten  Abfallentsorgungspraktiken in russischen Zuegen wird die Bahnlinie unmittelbar von Muell gesaeumt. Neben diesem haesslichen Anblick und der monotonen Landschaft sehen wir auch weidende Kamele und ab und an eine kleine Ortschaft oder einen muslimischen Friedhof aus kleinen gemauerten spitzbezinnten Haeuschen gen Mekka gewant an uns vorbeiziehen.
Aber zurueck zu unseren neuen Freunden. Nach anfaenglichen Befuerchtungen, dass wir unsere Reisebeziehung mit dem aelteren kirgisischen Ehepaar unter uns mit schlechtem Vorzeichen begonnen haben, hat sich die Allgemeine Stimmung durch gegenseitige Bemuehungen im Laufe der ersten Stunden erheblich verbessert. Durch die grundlegend einfache Kommunikation durch Gestik und Laute lacht man ueber sich und den anderen und schafft eine einander wohlgesonnene Atmosphaere. Auf die oft gestellte Frage, wie wir diese Reise finanzieren koennen, zeigen wir auf unseren nackten Ringfinger als Zeichen dafuer, dass wir nicht verheiratet sind, was bei Maennern jeglicher Nationalitaet auf sofortiges Verstaendnis stoesst. Die Reaktion der kirgisischen Ehefrau allerdings ging im allgemeinen Gelaechter unter. Durch den begrenzten Raum und die lange gemeinsam zu verbringende Zeit kommt man mit jedermann im Wagon in Kontakt und wir als exotische Auslaender sind gern gesehene Gaeste in anderen „Abteilen“ unseres Wagons. Im Abteil neben uns ist eie Familie aus Aserbaidjan, der Vater, Akiv, seine Frau mit ihre beiden frechen Soehne, Elmartin und Elgun, die uns immerzu in die Zehen zwicken, wenn wir auf unseren Pritschen liegen. Auch alles andere an uns wie Walkman und Brille wird gern ausgetauscht und begutachtet und am liebsten bei dieser Hitze wird geschmust! Ein junges kasachisches Paar, die beide auch etwas englisch sprechen und in Almaty studieren und versuchen uns alles kasachische ans Herz zu legen, teilen sich die Parzelle mit den Aserbaidjanern. Mit zwei Betten in unserem sowie drei im Nachbar-„Abteil“ weilt eine russische Mutter mit asiatischen Gesichtszuegen mit ihren vier Kindern. Die aelteste Tochter lauscht gerne unseren gestenreichen Konversationen mit anderen und wirft dann ganz stolz ein Wort in englisch oder deutsch ein. Wir sind immer sehr anerkennend. Weiter den Gang hinunter ist eine groessere dagestanische Familie mit drei Jungs im Teenageralter, Abdul, Abdullah und Habib. Alle drei sind Boxer und Ringer und haben die ensprechenden Figuren, die einen vor Neid erblassen lassen. Aus Platznot, aber auch durch den ueberschuss an Zeit, wandern die Leute durch den Wagon und mischen sich in andere „Abteile“ zum Austausch von Neuigkeiten. Wir werden von allen Seiten verwoehnt, das kirgisische Ehepaar kuemmert sich um unsere Hauptmahlzeiten, kuehle Getraenke bekommen wir vom aserbaidjanischen Familienoberhaupt, und den Nachtisch reichen uns die russischen und aserbaidjanischen Kinder. Wir versuchen klaeglich auch hier und da etwas beizusteuern. Dies wird aber nicht so gerne gesehen, bzw. nicht angenommen oder ignoriert. Wir haben das Gefuehl, dass wir darauf achten muessen, keinem den Vorzug zu geben. Am meisten umsorgt uns die Schaffnerin Valentina, deren Herz wir durch das Angebot eines Scherzmittels gegen ihre offensichtliche Pein gewonnen haben. Seit dem umsorgt und beschuetz sie uns, auch bei unseren Geschaeften ausserhalb des Zuges, wie eine Mutter, weshalb wir sie auch nur noch „Mama“ nennen.

Inzwischen sind wir uebrigens schon 48 Stunden unterwegs und haben dabei bereits zwei Zeitzonengrenzen passiert. Die Langeweile treibt uns auch zu poetischer Hoechstleistung. Unser reinstes Ergebnis:

„Ohne Scheiss,
mir ist heiss!“

Ausserdem treibt es uns gemeinsam zu diesen detaillierten Ausfuehrungen, die ihr gerade vor Euch habt.
Als Abwechslung zur monotonen Zugfahrt freuen sich alle ueber die unregelmaessigen Stops an den Bahnhoefen. Dort verkaufen meist fliegende Haendlerinnen aus Tueten heraus ihre Waren. Im Angebot ist z.B. Brot, Huehnchen, Tomaten, gekochte Eier, Fladen mit Kartoffeln oder Fleisch gefuellt und Trockenwaren wie Tuetensuppen, Tee und Kaffee. Ausserdem gibt es eiskalte Getraenke, die, da sie komplett durchgefroren sind, sich sogar einige Zeit kuehl halten, allerdings muss man den Zeitpunkt, da man sie trinken kann, gut abpassen. Waerend der Fahrt kann man sich, aus einem mit Brikets beheiztem Samowar in jedem Wagon, mit heissem Wasser fuer Tee, Suppen oder Kaffee versorgen.

 

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